Chuck D: "Die USA waren immer schon ein heuchlerisches Land"
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Chuck D: Eine Kultur wie Hip-Hop kann Veränderungen bewirken, aber die müssen auch in der realen Welt ankommen. Das ist dieses Jahr beispielsweise nach dem Mord an George Floyd passiert: Viele Künstler haben sich dazu geäußert, im Profisport wurden Zeichen gesetzt, Menschen sind auf die Straße gegangen. Die heuchlerische Lüge wurde enttarnt, dass es keine rassistisch motivierte und vollkommen unangemessene Polizeigewalt gäbe. Diese Erkenntnis war es auch, die auf der ganzen Welt verstanden wurde und letztlich überall zu Protesten geführt hat: Niemand sollte aufgrund seines Äußeren beurteilt werden.
ZEIT ONLINE: Hört man sich heute einige Ihrer Songklassiker wie Don’t Believe The Hype, 911 Is A Joke oder Fight The Power an, in denen es um Medien, Rassismus, Afrozentrismus, die Drogenproblematik in den US-Großstädten und Polizeibrutalität geht, stellt man fest: Inhaltlich haben diese Stücke nichts von ihrer Aktualität und Relevanz verloren. Wie erklären Sie sich diese traurige Tatsache?
Chuck D: Sagen wir so: Dreißig Jahre sind kulturell betrachtet eine lange Zeit, aber nur ein Augenschlag im Lauf der Welt. Um Veränderungen zu bewirken, braucht es ungeheuer viel Zeit. Immerhin werden besagte Themen mittlerweile weltweit diskutiert, das werte ich als Fortschritt. Das Problem ist nur: Regierungen mögen das nicht. Die wollen keine Bürger haben, die sich zusammentun und den Regierenden sagen, was diese zu tun haben.
ZEIT ONLINE: Als Sie mit Public Enemy in den Achtzigerjahren auf der Bildfläche erschienen, waren Sie unangepasst, wütend, aufsässig, subversiv, kämpferisch …
Chuck D: Wer sagt das?
ZEIT ONLINE: Würden Sie da widersprechen?
Chuck D: Ich würde unsere Musik als wütend bezeichnen, ich selbst aber war auch damals schon eher zurückhaltend. Ich habe ja bloß davon erzählt, was ich um mich herum wahrgenommen habe.
ZEIT ONLINE: Wie betrachten Sie denn die aktuelle Hip-Hop-Szene?
Chuck D: Hören Sie sich dazu am besten meine Radiosendung Planet Earth Planet Rap auf rapstation.com an, da bekommen einen guten Eindruck davon, wie Hip-Hop derzeit für mich aussieht.
ZEIT ONLINE: In Ihrem neuen Stück Toxic fragen Sie: "Can a song save the world …"
Chuck D: "... in this time of 45"?
ZEIT ONLINE: "45" meint den 45. US-Präsidenten, Donald Trump also. Wie schätzen Sie denn den Einfluss ein, den ein einzelner Song oder ein Rapper auf die Gesellschaft oder politische Themen noch haben können?
Chuck D: Rapper können immer etwas aussprechen, das der Welt dabei hilft, Dinge klarer zu sehen. Das kann erbaulich sein oder verletzen. Das ist nun einmal die Wirkung von Songs.
ZEIT ONLINE: Hat der gesellschaftliche Einfluss von Hip-Hop über die Jahre zu- oder abgenommen?
Chuck D: Schwer zu sagen. Heute nutzt natürlich jeder die sozialen Medien, dadurch kann man unglaublich viele Menschen erreichen. Insofern: Einzelne Songs mögen heute weniger Einfluss auf das Denken von Menschen haben, einzelne Aussagen auf Social Media dafür umso mehr.
ZEIT ONLINE: Bedauern Sie den enormen Einfluss der sozialen Medien?
Chuck D: Die besitzen jedenfalls fraglos große Macht. Ich habe das Gefühl, dass die Leute ihr Telefon viel zu oft als Spielzeug gebrauchen statt als Werkzeug.
ZEIT ONLINE: Würden Sie sagen, dass das Internet die Welt zu einem schlechteren Ort gemacht hat?
Chuck D: Nein, es hat die Welt zu einem offeneren Ort gemacht. Man muss diese Offenheit nur richtig zu nutzen wissen. Das tun die wenigsten.
ZEIT ONLINE: Public Enemy war eine der ersten Bands, die das Netz für ihren digitalen Vertrieb genutzt und so ihre Musik verkauft haben. Hat sich Ihre Einstellung zum Netz mittlerweile verändert?
Chuck D: Nein. Wir waren uns darüber im Klaren, dass das die Zukunft werden würde und sich das Netz zugleich verändern würde. Aus diesem Grund haben wir uns sehr früh damit beschäftigt, weil wir es für unumgänglich hielten.
ZEIT ONLINE: Sie sind für viele Menschen nicht nur ein musikalisches, sondern auch ein politisches Vorbild. Wie beeinflusst das Ihr Tun?
Chuck D: Ich bin mir der Tatsache bewusst, nicht zuletzt deshalb, weil ich überall auf der Welt in entsprechende Gespräche verwickelt werde. Aber ich höre stets mehr zu, als selbst zu sprechen. Das ist eine hilfreiche Eigenschaft, würde ich meinen. Werde ich nach etwas gefragt, gebe ich gern eine Antwort. Aber ich renne nicht herum und biete meine Meinungen feil. Mehr Zuhören, weniger Reden: Das funktioniert. Jedenfalls für mich.
"What You Gonna Do When the Grid Goes Down?" von Public Enemy ist bei Def Jam/Universal erschienen.